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Ehrenamtlicher Forscher dokumentiert Kriegstote - Großes Interesse von Ahnenforscher am Stadtarchiv


Die Gefallenen, die Tuttlingen im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte, sind jetzt umfassend dokumentiert. Als ehrenamtlicher Heimatforscher führte Günter Müller die Ergebnisse verschiedener Quellen zusammen und stellte dem Stadtarchiv seine Forschungsergebnisse zur Verfügung. Vor allem private Familienforscher profitieren von der Arbeit.

Günter Müller vor Archivschrank

Forscht ehrenamtlich in Räumen des Archivs: Günter Müller.

Karl Albert Stengelin wurde nur 26 Jahre alt. Er kam aus Tuttlingen, war musikbegeistert, und wurde Mitglied eines Musikkorps der Wehrmacht. Doch den Beginn des Zweiten Weltkriegs überlebte Stengelin nur um wenige Tage. Am 9. September 1939 kam der Unteroffizier in Polen ums Leben. Schon kurz nach dem Überfall von Nazi-Deutschland auf das Nachbarland fiel Stengelin bei einem Gefecht in der Nähe des polnischen Ortes Stopnica.

Stengelin wurde zum ersten Gefallenen, den Tuttlingen im Zweiten Weltkriegs zu beklagen hatte. Und in der Tabelle, die Günter Müller nun angelegt hat, steht vor den Fächern mit den Daten Stengelins die Nummer eins. Es folgen weitere 779 ZeiIen. Denn nach dem Ergebnis der jüngsten Untersuchungen verloren insgesamt 780 Tuttlinger auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs ihr Leben. Der letzte Wehrmachtsangehörige, der außerhalb der Stadtgrenzen starb, war Ernst Friedrich Hoffmann, der 1948 in Sibirien verstarb.

Die Zahl ist dabei höher als bislang angenommen, wobei die genaue Anzahl lange unklar war. Der Grund: Die Kriegstoten wurden nirgends zentral erfasst, verschiedene Listen wurden unabhängig voneinander geführt, niemand glich sie miteinander ab. So listet zum Beispiel die Kriegsgräberdatenbank 604 oder das Bundesarchiv in Berlin 360 Tuttlinger auf, die aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zurückkehrten. Eine interne Gefallenenliste, die die Stadt Tuttlingen während des Zweiten Weltkriegs führte, nennt 284 Namen, die Aufzeichnungen endeten aber bereits 1942. Ergänzend dazu gibt es eine Vermisstenliste, auf der weitere 70 Namen auftauchen. Und im „Eisernen Buch“ in der Gedenkhalle auf dem Alten Friedhof sind 683 Namen verzeichnet.

Das Problem dabei: Manche Namen tauchen nur auf einer der Listen auf, andere in zwei oder mehreren. Teils sind nur Namen, Geburts- und Sterbedatum überliefert, in manchen Fällen gibt es auch vertiefende Informationen. All das machte die Lage unübersichtlich. „Bislang hatte sich niemand damit beschäftigt, einmal alles miteinander abzugleichen“, so berichtet Stadtarchivar Alexander Röhm.

Diese Aufgabe übernahm jetzt Günter Müller. Schon seit vielen Jahren befasst sich der pensionierte Lagerist mit Regionalgeschichte, erst vor einigen Jahren stellte er Informationen zu über 80 historischen Grabmalen auf dem Alten Friedhof zusammen. „Ahnenforschung hat mich schon immer interessiert“, so Müller, „schon zu Schulzeiten hatte ich da ein besonderes Interesse.“

Gerade die privaten Ahnenforscher hatte Müller auch im Blick, als er sich an die Listen der Gefallenen machte. „Ich kam schon öfters auf dem Alten Friedhof mit Leuten ins Gespräch, die eigens nach Tuttlingen gekommen sind und in der Ehrenhalle nach den Namen ihrer Vorfahren suchen“, berichtet er. Aber auch das dort ausgestellte „Eiserne Buch“, das 1960 als Teil des Mahnmals geschaffen wurde, gibt ja nicht die kompletten Listen wieder.

In anderthalbjähriger Arbeit machte sich Müller also daran, eine Systematik in die verschiedenen Verzeichnisse zu bringen, rund zwei Stunden pro Tag widmete er der Aufgabe und hatte während dieser Zeit seinen festen Arbeitsplatz im Archiv. Die Ergebnisse seiner ehrenamtlichen Forschungen stellte er nun der Stadt Tuttlingen zur Verfügung. Und dort kann man die übersichtlich aufbereitete Datensammlung gut brauchen, denn Menschen auf der Suche nach ihrer Familiengeschichte kontaktieren das Archiv regelmäßig. „Wir haben insgesamt rund 700 bis 800 Anfragen pro Jahr“, so berichtet Alexander Röhm, „rund die Hälfte davon sind Familienforscher.“ Zu Corona-Zeiten ist das Interesse sogar nochmals gestiegen. „Von 2019 auf 2020 hatten wir hier eine Steigerung von über 100 Prozent – die Leute nutzten offenbar die Lockdowns, um ihre Vergangenheit zu erforschen.“

Ein Großteil der Anfragen kommt aus Deutschland, so Röhm, aber auch aus „typischen Auswandererländern wie den USA, Kanada, Australien oder Brasilien.“ Und bei diesen Anfragen sei man für jede gut aufbereitete Quelle dankbar - zumal Günter Müller in seinen Unterlagen alle Informationen zusammengefügt hat, die zu den jeweiligen Personen auffindbar waren. Das können mal Hinweise zur Familie, mal zum Beruf oder zum Arbeitgeber sein. „Das können bei privaten Forschungen dann wichtige Anhaltspunkte für weitere Anfragen sein“, so Alexander Röhm. Allerdings macht Röhm auch klar, wo die Grenzen einer solchen Liste liegen: „Wir können hier nur biographische Daten liefern, reine Fakten. Welche Rolle diese Menschen im Krieg spielten, was sie taten oder welche Verbrechen sie vielleicht auch begingen, wissen wir nicht.“

Aber trotz dieser Lücken: Sowohl Röhm als auch Müller sehen die Dokumentation auch als einen Beitrag, dieses Kapitel der Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren. Und das nächste Projekt hat Müller schon vor Augen: Dieses Mal geht um die Gefallenen und Vermissten des Ersten Weltkrieges.

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